Es war die Absicht Herzog Wilhelms von Braunschweig, seinen vom Nachtmarsche von Leipzig her ermüdeten Truppen in Halle einige Rast zu können. Aber sein Plan wurde umgeworfen. Als er auf dem Marktplatze in Halle vom Pferde stieg, meldete sich eine Schar versprengter Schillscher Reiter bei ihm und bat um Aufnahme in des Herzogs Korps.
Gleichzeitig erzählte der Führer von dem Überfall der Hettstedter Bürgerkompanie bei Ritterode, der die Schillschen zur Flucht zwang. Diese Tat empörte den Herzog so sehr, dass er beschloss, die Rast abzukürzen und einen Umweg einzuschlagen, um die Stadt Hettstedt zu bestrafen
Bereits um ein Uhr befanden sich die wackeren „Schwarzen“, ihre Reiterei voran, wieder auf dem Marsche. Der ging über Wettin der noch sichtbaren Fährte der Schillschen Reiter folgend. Noch vor Sonnenuntergang hatte man das Ziel erreicht und die Stadt Hettstedt mit ihren von ein paar Türmen überragten Häusern vor sich. Auf der geräumigen Trotzwiese vor der Stadt wurde haltgemacht und ein Zeltlager bezogen. Schon vorher hatte der Herzog eine Abteilung Reiter abgeordnet, die unversehens in die Stadt dringen und die Missetäter aufheben sollte.
Aber diese Reiterabteilung hatte kein Glück. Trotz aller angewandten Vorsicht war den Bösewichtern, um die der Zug ausgeführt worden. Sie hatten sich Hals über Kopf aus dem Staube gemacht und so ein billiges Mittel gefunden, der rächenden Nemesis zu entgehen.
Die Reiterschar, die gewiss scharf genug Zugriff, im Galopp in die Stadt einritt und die schnell festgestellten Wohnungen der Männer, auf die sie es abgesehen, förmlich stürmte, fand die Nester leer, die sie ausnehmen wollte, und die unsauberen Vögel ausgeflogen.
Um aber nicht mit leeren Händen zu kommen, ließ der Führer der Abteilung im Umsehen zwei Bürger aufgreifen, die den Titel „Ratsherren“ führten, einen Kaufmann und einen reich gewordenen früheren Lohgerber. Beide wurden in Ermangelung der wahren Schuldigen vor den Herzog nach der Trotzwiese geführt.
Dieser war höchst aufgebracht darüber, dass ihm der erhoffte Fang entgangen zu sein schien. Er herrschte die in angezogener Kopfbedeckung und unterwürfiger Haltung vor ihm stehenden Unglücksmänner sehr ungnädig an. Er werde sich mit solchen elenden Verbrechern am deutschen Volk nicht lange einlassen. Ganz Hettstedt sei in Verruf für den begangenen Frevel und müsse dafür einstehen. Wenn nicht binnen spätestens vierundzwanzig Stunden die gesuchten Rädelsführer in seinen Händen seien, werde er die Stadt an allen vier Ecken anzünden und in Grund und Boden verderben.
Die beiden unglücklichen Bürgersleute versuchten trotz der abweisenden Haltung des Herzogs noch eine beschwichtigende Einrede. Aber sie fingen die Sache am verkehrten Ende an. Denn für die grade Natur diese echten Kriegsmannes waren sie viel zu schmierig und untertänig. Dazu legten sie ihm Titel bei, die ihn zu anderen Zeiten vielleicht belustigt hätten, wegen des albernen Tonfalles aber, in dem sie vorgebracht wurden, nur noch mehr seinen Zorn und seine Verachtung erregten. Der eine nannte ihn fortgesetzt „allerhöchste Durchlaucht“ der andere, es war der Lohgerber, gar „ewige Exzellenz.
Sie meinten, das gerade die Bürgerschaft von Hettstedt an dem verhängnisvollen Zuge nach Ritterode, den hauptsächlich der Advokat Helm auf dem Gewissen habe, gar nicht beteiligt gewesen sei. Was da mitgezogen, das seien nur Arbeiter, Gesellen und gar Lehrlinge gewesen, unreifes Volk, was die Stadt nicht ausgemacht. Jedoch der Herzog schnitt ihre Salbaderei durch eine heftige Handbewegung ab und rief zugleich abbrechend:
„Genug ihr traurigen Schneesieber. Euer Stadtoberhaupt war mit von der Partie und sogar der Anführer. Das genügt und macht euch alle mit verantwortlich. Und merkt euch das: während wir hier auf die Einlieferung der Schuldigen warten, habt ihr für den Unterhalt meiner Truppen zu sorgen. Wehe euch, wenn klagen laut werden über mangelhafte Lieferungen.“
„Gnade, Gnade, ewige Exzellenz!“ wimmerte der einstige Lohgerber.
„Gnade, Gnade, allerhöchste Durchlaucht!“ schloss sich der Kaufmann an.
Doch der Herzog rief: „Fort mit ihnen“ und winkte den Reitern, die als Bewachung hinter den Unglücksmännern standen.
Die sahen sich nun etwas unsanft gepackt und unversehens nach dem Eingange der Stadt befördert.
In der Stadt erhob sich bald großes Wehklagen. Man wusste genau, dass der Welfenherzog nicht mit sich spaßen ließ und es sich keineswegs um eine leere Drohung handle, wenn er die Zerstörung der Stadt in Aussicht gestellt hatte. Unter Hangen und Bangen hatte die Bürgerschaft die Nacht verbracht. Voller Angst beobachtete man anderen Tags das unaufhaltsame vorrücken der Turmuhrzeiger. Es wurde Mittag. Die Nachmittagsstunden kamen. Wohl hatten die Bäcker, die Fleischer, die Material- und Grünwarenhändler fleißig das ihre getan, das herzogliche Korps nach Kräften mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Desgleichen waren für die Pferde die städtischen Kornböden geleert worden. Damit wurde aber das Verhängnis nicht abgewendet. Es wurde fast Abend und die Stunde rückte allgemach heran zu der sich das Geschick der Stadt erfüllen sollte.
Dem Verlangen des Herzogs nachzukommen, lag für die Stadt außer dem Bereiche jeder Möglichkeit. Die Übeltäter waren längst über alle Berge und zweifellos in vollständiger Sicherheit unter französischer Obhut. Angst und Verzweiflung, namentlich der weiblichen Elemente der Stadt, erreichten den Höhepunkt und machten sich auf den Straßen in lautem Jammern Luft.
Da entschlossen sich zwei mutige Mädchen, Töchter des angesehensten Kaufmannes, die eine vierundzwanzig, die andere zwanzig Jahre alt, vor Ablauf der gestellten Frist noch einen Bittgang zum Herzog zu wagen. Sie waren anmutige schlanke Erscheinungen und hatten in der Stadt bisher als stolz und unnahbar gegolten.
In Schwarz gekleidet traten sie ihren schweren Gang an. Die Jüngere trug ein Körbchen mit Kirschen in der Hand. Von den Frauen und Kindern in der Stadt wurden sie zum Ausgange geleitet.
Der Herzog befand sich in seinem einfachen Zelte und ließ sie vor sich kommen.
Die Mädchen fielen alsbald vor ihm nieder und die älteste sprach, tapfer ein sie überfallendes Weinen unterdrückend:
Herr Herzog, die Stadt kann die verlangten Missetäter nicht ausliefern. Sie sind längst im Schutze der Franzosen. Sollen nun wirklich mehr als tausend Unschuldige für ein paar Schuldige leiden? Herr Herzog!… Gott der Herr wollte die Stadt Sodom verschonen, wenn sich zehn Gerechte darin befinden würden. So seien der Herr Herzog auch gnädig wie unser Herrgott….“
Die Stimme versagte ihr und sie brach nun doch in ein leises Schluchzen aus in das die Schwester, fast noch lieblicher anzuschauen als die Sprecherin, alsbald einstimmte.
Eine Pause trat ein. Der Braunschweiger mochte sich auf einmal der Furchtbarkeit seiner Drohung bewusst werden. Er sah die lieblichen Bittstellerinnen lange an ohne ein Wort zu sprechen. Dann schritt er auf sie zu und hob sie empor. Die Jüngere hielt ihm unter einem rührenden Versuche zu lächeln das mit Kirschen gefüllte Körbchen entgegen und er nahm es ihr gütig ab. Dann sagte er: „Gut, es sei kein Wort weiter verloren“. Die Stadt soll mit einer starken Lieferung von Lebens- und Futtermitteln davonkommen.“
Die Glückstrahlenden wollten sich in Danksagungen ergehen, wurden aber vom Herzog sanft und zart aus dem Zelte gedrängt, und sie eilten nun beflügelten Schrittes der Stadt zu dort die frohe Botschaft zu verkünden…..
In der Tat brach der Herzog anderen Tags auf, zog aber zuvor wie angekündigt, die schwere Schatzung ein.
Der Aufenthalt der Schwarzen kostete Hettstedt 42 000 Mark.
A. Reulecke
Bearb. Hettstedt-Burgörner-Chronist, E. Graf/2018